Die schweigende Mehrheit verschwindet

46,7, 39,5 und 46,4 Prozent – die Werte der Stimmbeteiligungen anlässlich der drei eidgenössischen Urnengänge in diesem Jahr sind charakteristisch für die direkte Demokratie in der Schweiz: Die Mehrheit der Stimmberechtigten schweigt. Nur in seltenen Fällen übersteigt die Partizipation die symbolische 50-Prozentmarke. In der Tat entzündet sich eine der Hauptkritikpunkte an ausgebauten direktdemokratischen Institutionen an der tiefen Beteiligung. Diese stellt generell die Legitimität der Entscheidungen in Frage und kann zu verzerrten Resultaten führen, da gewisse Bevölkerungsschichten (insbesondere Junge, schlecht Ausgebildete und politisch Uninteressierte) grossmehrheitlich von den Urnen fernbleiben. Selbst glühende Verfechter von Referenden und Initiativen sehen sich in dieser Frage in der Defensive und räumen oft ein, dass es hierzulande schlecht um die Partizipation bestellt ist. Nicht zuletzt aufgrund der tiefen Stimmbeteiligung wird der Schweizerischen Demokratie in zahlreichen internationalen Rankings denn auch ein mittelprächtiges Zeugnis ausgestellt.

Diese landläufige Meinung beruht allerdings auf einer verkürzten Sichtweise, wie eine kürzlich erschienene Studie von Uwe Serdült suggeriert, der am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) der Universität Zürich tätig ist. Mit Hilfe von Individualdaten aus Stimmregistern, die dem Forscher in anonymisierter Form vorlagen, konnte Serdült am Beispiel der Stadt St. Gallen aufzeigen, dass die Stimmbeteiligung in die Höhe schnellt, sobald mehrere Urnengänge berücksichtigt werden. In den Jahren 2010 und 2011 nahm jeweils rund zwei Drittel der permanent in St. Gallen wohnhaften Stimmbevölkerung mindestens einmal an Abstimmungen teil. Im Zeitraum von März 2010 bis März 2012, in dem insgesamt sieben Urnengänge stattfanden, betrug diese kumulierte Stimmbeteiligung satte 75 Prozent. Serdült vermutet, dass im Rahmen einer Legislaturperiode rund 80 Prozent des Elektorats mindestens einmal partizipieren dürfte. Von einer schweigenden Mehrheit kann also bei einer näheren Betrachtungsweise keine Rede sein. Nur jede(r) Fünfte kann als AbstentionistIn bezeichnet werden. Etwa ebenso viele BürgerInnen machen meistens von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Die weitaus grösste Gruppe von rund 60 Prozent stellt freilich jene der unregelmässigen UrnengängerInnen dar.

Die aufschlussreiche Untersuchung von Uwe Serdült zeigt auf, dass die effektive Partizipationsrate weit höher liegt als dies gemeinhin angenommen wird. Die simple Fokussierung auf vorlagenbezogene Durchschnittswerte stellt insofern ein Artefakt dar, als dem weit verbreiteten Phänomen der selektiven Partizipation keine Rechnung getragen wird. Die schweigende Mehrheit verschwindet also, sobald eine ganze Reihe von Urnengängen in die Analyse einbezogen wird.

Quelle: Serdült, Uwe (2013). Partizipation als Norm und Artefakt in der schweizerischen Abstimmungsdemokratie: Entmystifizierung der durchschnittlichen Stimmbeteiligung anhand von Stimmregisterdaten aus der Stadt St. Gallen. In: Andrea Good & Bettina Platipodis (Hrsg.): Direkte Demokratie: Herausforderungen zwischen Politik und Recht – Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag (S. 41-51). Bern: Stämpfli.